Mein Freund Berthold (Teil 6.1 von „Mein Weg ins Leben“)

Wir haben eine lange gemeinsame Geschichte. Als ich fünf, sechs Jahre alt war, zog Bert mit seinen Eltern und der kleineren Schwester in unser Haus ein. Mit dem Haus übrigens hatte ich mal Glück gehabt. Das Haus der Eltern, ob eigener Besitz oder mit gemieteter Wohnung, ist eine ganz wichtige Ausgangsbedingung für den Weg ins Leben.

Wird man irgendwie in die Schönheit der Welt hineingeboren oder in ihre „Graulichkeit“? Unser Haus war schön. Es war ein 6-Familien-Haus und kam meinem Bedürfnis nach ganzhäuslicher Gemütlichkeit und Romantik entgegen. Die meisten Häuser in der kleinen Straße am Stadtrand unserer gemeinsamen Vaterstadt Brandenburg an der Havel waren Unikate. Nur auf unserer Straßenseite standen links neben uns 3, 4 Häuser gleichen Typs, jeweils für 8 Familien, aber auch in keiner massenüblichen, sondern einer irgendwie „vertraulichen“ Bauweise (was immer das ist; bitte die eigene Phantasiemaschine anschmeißen, liebe Leser).

Auf der Hofseite gab es kleine Gärten und ganz am Anfang noch den Hühnerstall von „Oma und Opa“ Hanne. Meine Eltern pflanzten dort Tomaten und Erdbeeren an und mein Bruder und ich stellten ein paar Jahre später im Garten ein Schild „Betreten verboten!“ auf, das wir mit einer durchsichtigen Folie überspannten. Ich staune, dass unsere Eltern das stehen ließen. Ich hätte mich als Vater wahrscheinlich vor den Nachbarn geniert.

Die Bürgersteige waren mit einer Reihe Rotdornbäumen beflanzt, die, mehrfach erneuert, die Straße heute immer noch zieren. (Meta hatte damals, als wir beide in die Erweiterte Oberschule gingen, vor vielleicht 55 Jahren, ein Gedicht geschrieben, in dem diese Straße vorkam. Hast Du es erstens noch, liebe Meta, und ist es zweitens nicht zu persönlich? Vielleicht kannst du es uns hier noch mal runterschreiben?)

Also in diesem Haus wohnten Bert und ich in unseren ersten, prägenden Lebensjahren. In einer individualpsychologischen Zusatzausbildung hatte ich gelernt, möglichst weit zurückliegende Kindheitserinnerungen als Hintergrundfolie eines durchgängigen Lebensgefühls zu verstehen. Lange zurückliegend sollten sie sein, um sicherzustellen, dass sie emotional sozusagen „aufgeladen“ waren. Denn nur an das, was uns beeindruckt hatte, im Lieben wie im Bösen, erinnern wir uns, wenn das Ereignis schon Jahrzehnte zurückliegt.

Mir war folgende Erinnerung eingefallen, ich war damals ungefähr fünf Jahre alt: Ich sitze an einem schönen warmen Tag, hell, aber nicht blendend, Schmetterlinge fliegen, ein Flugzeug brummt leise in der Luft, auf einem Heusack, der hinter dem Haus an der Wand liegt. Ich gucke, die warme Mauer hinter mir spürend, auf die kleinen Gärten und habe in mir ein grundsätzliches Wohlbehagen, verbunden mit einem Besitzerstolz, wie ihn „Gevatter Igel“ in der Geschichte vom Hasen und Igel gehabt haben mag, als er an einem schönen Sonntagmorgen über die Gartenpforte seines Anwesens gelehnt und mit einer Pfeife im Mund Gevatter Hase begrüßte, der gerade vorbeiging.

Schon bis hierher sagt diese Erinnerung, obwohl oder weil nichts passiert, viel über mein grundsätzliches Lebensgefühl: Der betuliche Genuss vertrauter Geborgenheit im Wohlgestalteten, die über die Innerlichkeit der eigenen Wohnung hinausgeht, verbunden mit Eigentümerstolz, obwohl das Haus und die Gärten uns ja nicht gehörten. Es war ein Gefühl, als ob es so wäre, so wie ein nichtbiologisches Familienmitglied so wirken kann, als ob es ein „richtiger“ Vater, eine „richtige“ Oma oder ein „richtiger“ Bruder wäre.

Aber diese Erinnerung geht noch weiter: Eine Nachbarin kam herunter und ging an mir vorbei: „Ach du Armer, hier so ganz allein!“ Ich dachte: „Kann man denn nicht einmal seine Ruhe haben und sich am Leben und seinem schönen Haus erfreuen?“ Aber es kam noch schlimmer: „Ich schicke dir gleich Wolfgang runter, damit du jemanden zum Spielen hast“. Er war so alt wie ich, aber ich konnte ihn nicht leiden, weil er einen jähzornigen Vater hatte, der ihn schnell selbst aggressiv werden ließ, immer entweder auf der Flucht oder zum Angriff bereit.

Dafür konnte Wolfgang nichts. Er war ein Opfer seiner Familienverhältnisse, aber das änderte nichts daran, dass diese ihn trotzdem unsympathisch machten. Außerdem war er von seinem Typ her nicht niedlich oder „süß“ /1/ und das verbunden mit einem Ur-Misstrauen zur Welt machte ihn zu keinem gern gesehenen Spielgefährten für mich. Das Leben ist ungerecht. (Erst viel später im Laufe meines Lebens hatte ich begriffen, wie wahr dieser Satz ist.)

Berti war nicht da. Mit ihm hätte ich gern zusammen auf dem Heusack gesessen. Ich hätte ihn bestimmt an meinen Gefühlen und Stimmungen Anteil nehmen lassen können, ich hätte mit ihm nicht nur innerlich in  Gedanken „gesponnen“, sondern zumindest halb äußerlich mit Worten und ihm bestimmt eine Geschichte davon erzählt, dass uns dieses Haus gehören würde. Hoppla, nicht so schnell: Dass mir dieses Haus gehört. Und gönnerhaft hätte ich ihn Schritt für Schritt mehr zum Miteigentümer gemacht. Das ist auch eine Eigenheit meiner Persönlichkeit, dieses Abgeben-Können und -Wollen, aber von einer Position der Stärke aus.

 

Fußnoten

/1/ Ich weiß nicht, ob ich schon als Kind ein Gefühl dafür hatte, welche meiner Altersgefährten ein angenehmes Äußeres hatten. Als Großvater habe ich es gegenüber kleinen Kindern umso mehr. Manche kommen mir von vornherein sehr niedlich vor, und ich würde sie am liebsten knuddeln.

3 Kommentare zu “Mein Freund Berthold (Teil 6.1 von „Mein Weg ins Leben“)”

  1. Meta sagt:

    Lieber Karl,
    deine Aufforderung an mich, im 4. Absatz von Teil 6.1 „Mein Weg ins Leben“ hatte ich doch tatsächlich überlesen – ob bewusst, versehentlich oder instinktiv, das sei dahin gestellt. Ich habe lange suchen müssen, um das von dir erinnerte Gedicht über die Rochowstraße zu finden. Aufgehoben habe ich es zusammen mit anderen Texten in einem bräunlichen Schnellhefter mit der Aufschrift „Gedichte, Versuche, Korrespondenz. 1967- 1975“. Der Titel besteht aus einem einzigen Wort: „Vielleicht“ und der Name der Straße kommt nicht ein einziges Mal vor. Auch die Rotdornbäume fehlen, dafür duftet der Flieder. Es existieren drei Fassungen, alle von 1969. Die dritte Fassung stammt nicht wirklich von mir, sondern ist eine vorsichtige Bearbeitung von Hannes Würtz, der damals für die Zeitung „Junge Welt“ die Rubrik „Schülergedichte“ betreute. Er wollte die Verse in einer leicht gestrafften Version veröffentlichen, aber das lehnte ich ab. Mein Dickkopf war schon immer größer als meine Einsicht.
    Hier kommt die Urfassung, die in deiner Erinnerung offenbar so abgespeichert ist, dass du vorsichtshalber fragst, ob das Gedicht nicht „zu persönlich“ ist. Klar ist es zu persönlich, aber das sind Gedichte doch immer. Los gehts.

    VIELLEICHT
    Wisst ihr, so ein lauer Frühlingsabend:
    Der Tag ist leicht angedämmert,
    der Staub legt sich müde aufs Pflaster.
    Ich habe mir Zeit
    für einen Spaziergang zusammengespart.
    Laufe allein durch irgendwelche Straßen,
    erst belebte, noch voll Tag,
    dann kleine, die nach Flieder duften
    und nach Stadtrand.
    Da steh ich wie zufällig
    vor deinem Haus. Erschrocken:
    Wenn du jetzt kämst! Was würde ich sagen?
    Guten Abend oder nichts vor Überraschung.
    Doch, wir würden uns unterhalten.
    Vielleicht über Philosophie: Da kann ich dich reden lassen.
    Oder über Literatur: Da hätte ich zu reden.
    Wir würden nicht wissen,
    wohin mit den Händen
    und der dummen Verlegenheit.

    Ich laufe da oft lang.
    Ich kann ungestört träumen
    und über Kummer hinweg balancieren.

    Zurück ist der Weg mir länger,
    weil ich nichts mehr erwarte.
    Ich bin verstimmt und heullustig,
    romantische, Anwandlung, am nächsten Morgen verlacht:
    Was hab ich doch gestern für Zeit vertrödelt.
    Ich nehme mir vor:
    Wenn ich Zeit hab, geh ich wieder
    in Richtung Stadtrand.
    Vielleicht …

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